
Der "natürliche" Mensch
Es scheint eine große Sehnsucht nach Natürlichkeit bei den Menschen unserer Republik zu herrschen. Ursprünglich, nachhaltig, natürlich, eine "intakte" Natur, damit werden Gesundheit, Zufriedenheit und Wohlbefinden assoziiert. Eine gewissenlose Marketingindustrie nutzt das gnadenlos aus und befeuert dieses vermeintliche Grundbedürfnis mit bunten Bildern und oft haltlosen Werbeversprechen.
Kann man "Natürlichkeit" so definieren, dass man sich als Teil der Natur versteht? Dann sind wir Menschen der Industrienationen das genaue Gegenteil, eigentlich extrem widernatürlich. Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele nennen.
Essen Sie gerne Obst? Einen schönen Apfel zum Beispiel. Essen Sie da das Kerngehäuse mit? Wenn nicht, wo bleiben Sie dann damit? Wenn doch, wohin scheiden Sie die Kerne aus? Pflanzliche Lebewesen haben eigene Fortpflanzungsstrategien entwickelt. Bei den Früchten handelt es sich um nichts anderes als eine Belohnung an den Esser, von dem die Pflanze erwartet, dass er ihren Samen - die Kerne - an einem anderen Ort in der Natur ausscheidet. So verbreitet sich die Pflanze. Werden Sie dem gerecht? Ein anderes Beispiel, das dazu passt, ist die Paprika. Die Frucht entwickelt sich mit ihren Samen. Solange der Samen noch nicht reif ist, bleibt die Frucht grün, mehr noch die Pflanze bildet Solanin als Fraßgift, weil die Paprika noch nicht möchte, dass ihre unreifen Früchte gefressen werden. Erst wenn ihr Samen reif ist, fängt sie an rot zu leuchten, das Solanin wird abgebaut, Zucker gebildet als Signal an uns Säugetiere: Friss mich! Ich bin sooo lecker, aber bitte scheide meinen Samen an einem schönen Platz aus, damit meine Kinder gut wachsen können. Wieso wird dann im Handel grüne Paprika verkauft?
Wann haben Sie das letzte Mal so richtig schön gerülpst und gefurzt? Sowas tut man nicht, meinen Sie? Ist aber natürlich. Der Furz riecht aber unangenehm? Dann stimmt etwas nicht mit Ihrer Ernährung, vielleicht zu viel Fleischkonsum?
Die Natur hat uns Menschen zum Laufen geformt. Im Idealfall können wir uns viele Stunden auf unseren Beinen fortbewegen. Verbrauchen noch nicht einmal viel Energie dabei. Aber was machen wir? Sitzen! Morgens am Frühstückstisch, auf dem Weg zur Arbeit in Auto oder Bahn, im Büro, abends vor dem Fernseher. Natürlich ist das nicht.
Welcher Organismus der Natur kleidet sich? Haben Sie mal darüber nachgedacht, an einem schönen Sommertag den Spaziergang durch die Natur nackt vorzunehmen? Falls Sie das einmal an nicht speziell dafür vorgesehenen Plätzen durchziehen, wird die Polizei nicht lange auf sich warten lassen.
Wir haben einen hochkomplexen Verdauungsapparat, der in der Lage ist, auch aus den seltsamsten Gaben der Natur Nährstoffe zu extrahieren. Nutzen wir diese einzigartige Fähigkeit? Trainieren sie jeden Tag? Natürlich nicht, wir machen es unserer Verdauung total einfach an Nährstoffe zu kommen, indem wir hochverarbeitete (die Industrie sagt "veredelte") Lebensmittel zu uns nehmen. In der Folge dessen verlernt unsere Verdauung immer mehr von ihren natürlichen Fähigkeiten, wie ein Muskel, der erschlafft, wenn er nicht genutzt wird.
Was passiert mit Organismen, die natürlicherweise sterben? Sie bilden die Grundlage für neues Leben, Humus, organische Materie, in - bzw. von der - unzählige andere Organismen profitieren. Und wir Menschen? Haben so viel unnatürliches in unseren Körpern angereichert, dass unsere toten Organismen als Sondermüll gelten.
Noch nicht einmal unsere Ausscheidungen können wir der Natur überlassen. Mal abgesehen davon, dass es zu viele Menschen und damit zu viele Ausscheidungen gibt, müssen diese aufwändig geklärt werden und die Rückstände verbrannt, da diese mehr Gifte enthalten als die Natur verkraften kann.
Dieses definitiv unnatürliche Verhalten findet sich schlimmer Weise nicht nur bei uns Menschen. Meine Frau und ich gehen gern in der Natur wandern. Auch viele Hundebesitzer schätzen die Natur. In diesen Wintermonaten sehe ich bald jeden zweiten Hund bekleidet. Halsband, klar, Leine hoffentlich; aber darüber hinaus? Regencapes, gefütterte Umhänge - Leute, der Hund hat ein Fell!
Ein großer Teil der Menschheit hat gerade das Corona-Virus überstanden. Aber nicht aus natürlicher Abwehr, sondern weil wir Menschen in kürzester Zeit Abwehrmechanismen entwickelt haben, leider aber keine natürlichen, die an unsere Folgegenerationen weitervererbt werden könnten. Naja, eigentlich ja doch, Impfstoffe sind ja auf dem Markt. Hoffentlich auch in der Zukunft. 100 Jahre nach der verheerenden Spanischen Grippe war jedenfalls kaum etwas von den damals gemachten Erfahrungen verfügbar.
Zum Ende dieses Newsletters würde ich gern ein Resümee ziehen, idealerweise ein positives - nur, was soll ich sagen, wir Menschen (bis auf wenige Ausnahmen) stellen uns als völlig unnatürlich dar, auch wenn oft gern der gegenteilige Eindruck erweckt werden soll. Ich werde jetzt erstmal einen Apfel essen.
Ihr Andreas Sommers