
Wochenmarkt
Liebe Brotbackfreude,
nehmen Sie wie ich unser Umfeld als immer aggressiver und lauter wahr? Ich spreche jetzt nicht von der Kriminalität oder dem Straßenverkehr. Mir geht es um die Werbung, das Marketing rund um die Lebensmittel. Es vergeht kein Jahr in dem nicht irgendein "Lebensmittel" oder Ernährungsstil gehyped (merkwürdiges Wort) wird. Es füllt die Medien, die sich mit den verschiedensten Aussagen überschlagen, innerhalb kürzester Zeit finden sich die teilweise absurdesten Aussagen auf den Lebensmittelverpackungen wieder. Titelbeladene Experten lassen kein Medium aus, um sich mit ihrer Meinung dazu hervorzutun. Wer am lautesten (und absurdesten)I schreit, wird gehört. Dem Verbraucher schwirrt der Kopf, und er weiß kaum noch, was er glauben soll.
Im Lebensmittelmarketing wird angemaßt, sich mit fremdem Federn geschmückt, gelogen, dass die Gurken wieder krumm werden. Eines ärgert mich (und damit alle meine Wochenmarktkollegen) besonders. Mit einer anmaßenden Selbstverständlichkeit nutzen große Lebensmittelkonzerne die Reputation unserer Wochenmärkte für ihr Marketing. Die großplakatierte Aussage "Frische wie auf dem Wochenmarkt" ist da noch die harmloseste und vielleicht sogar schmeichelhafteste Aussage. Aber zu behaupten "bei uns ist jeden Tag Wochenmarkt" ist anmaßend und zu werben "Der beste Wochenmarkt Deutschlands" zu sein, eine Frechheit.
Ich bin selber seit 12 Jahren regelmäßiger Wochenmarktbeschicker. Das bedeutet, ich bin jede Woche, das ganze Jahr über, bei Wind und Wetter für meine Kunden da. Und ich weiß, auch meine Kunden kommen jede Woche bei Wind und Wetter zu mir, darauf kann ich mich verlassen. Ich habe Kollegen, die seit über 50 Jahren für ihre Kunden da sind. Die Beziehungen zu unseren Kunden sind sehr besonders und persönlich. Man kennt sich nicht nur beim Namen. Mit den Jahren weiß man sehr viel Persönliches voneinander, fühlt mit, ist betroffen bei Schicksalsschlägen, freut sich mit bei freudigen Ereignissen. Es ist immer Zeit für einen persönlichen Plausch. Auch das Schlange stehen ist hier kein Ärgernis, steht man doch mit Gleichgesinnten, die man jede Woche wiedertrifft. Ein Wochenmarkt hat seine ganz eigene Sozialstruktur. Der Ton ist manchmal rau, manchmal auch laut, aber immer herzlich und offen.
Meist sind wir kleine Selbstständige, oft auch Selbsterzeuger. Fahren mitten in der Nacht zu den Großmärkten, um für unsere Kunden die beste Ware auf den Markt zu bringen. Die Selbsterzeuger holen ihre Produkte vom Feld, stehen in Küche und Backstube, um sich jede Woche mit Ihren eigenen Produkten dem kritischen Geschmack ihrer Kunden zu stellen. Unsere Angestellten (die, die bleiben) stehen nicht mit uns auf den Märkten, weil es hier viel Geld zu verdienen gibt. Nein, auch sie lieben das besondere Verhältnis zu den Kunden und die Gewissheit für gute Produkte einzustehen. Und das trotz oft widriger Arbeitszeiten und natürlich auch: bei Wind und Wetter.
Dazu möchte ich eine Geschichte (von vielen) herausgreifen. Unser Schlachter musste gesundheitsbedingt nach 46 Jahren seine Märkte aufgeben, 73 war er da. Er hat bis zuletzt, er konnte sich kaum noch bücken, um seinen Wagen an Strom anzuschließen, weitergemacht. Und immer noch ruft er mich an und fragt, ob sein Nachfolger auch gut zu seinen (ehemaligen) Kunden ist (ja, ist er, er ist ebenfalls ein alter Wochenmarktprofi).
So ein Verhältnis muss man sich aber auch verdienen, die Kunden kommen nicht von allein. Oft dauert es bis zu einem Jahr, bis man sich auf einem Wochenmarkt etabliert hat. Die Händler, die keine Geduld haben, schlechte oder austauchbare Ware anbieten, haben dauerhaft keine Chance auf einem Wochenmarkt Fuß zu fassen.
Verstehen Sie jetzt meinen Ärger über die anmaßenden Marketingaussagen des Lebensmitteleinzelhandels? Auf riesigen Geschäftsflächen, zu rund 90 % gefüllt mit Industrielebensmitteln in einer Vielfalt und Tiefe, die niemand wirklich braucht. Aus Rohstoffen für die Landwirte gezwungen sind Masse, statt Klasse zu produzieren. In Regale sortiert von Menschen, die für den Mindestlohn arbeiten müssen. Eigentlich müssten die Betreiber dieser Geschäfte zutiefst beschämt über ihre Marketingaussagen sein, weil sie noch nicht einmal im Ansatz das repräsentieren können, was einen echten Wochenmarkt ausmacht.
So bleibt mir die Hoffnung, dass aufmerksame Kunden diese Diskrepanz zwischen Werbeaussagen und der Realität erkennen und solche Geschäfte nach Möglichkeit meiden. Unsere treuen Wochenmarktkunden machen dies.
In diesem Sinne guten Appetit
Ihr
Andreas Sommers