Dein Freund der Magen
Liebe Brotbackfreunde,
Ist Ihnen schon einmal etwas so richtig auf den Magen geschlagen? Damit ist natürlich nicht die unfreundliche Begegnung mit einem Preisboxer gemeint. Auch hat es eigentlich nichts mit dem Essen zu tun, sondern eher mit sehr tiefen, enttäuschenden Gefühlen.
Schauen wir also den Magen einmal genauer an: Nach der Passage durch den Mund landen die mehr oder weniger grob zerkleinerten Essensbestandteile in diesem mit Salzsäure gefülltem Sack. Das mag jetzt ein wenig respektlos diesem wichtigen Verdauungsorgan gegenüber anmuten, aber betrachtet man ihn genau, drängt sich der Vergleich geradezu auf. Dieser „Sack“ von bis zu 1,5 Liter Größe hat zwei Schließmechanismen, oben den Ösophargus/Kardia unten den Pylorus. Ist der Nahrungsbrei erst einmal in diesem Sack, wird er kräftig durchgeknetet. Immer wieder, bis der Pylorus (Pförtner) beschließt, kleine Mengen der Nahrung an den Zwölffingerdarm weiterzugeben. Das geschieht gleichmäßig über mehrere Stunden. Je nach Zusammensetzung der Nahrung können das schon mal, z.B. bei einem fetten Gänsebraten, bis zu 12 Stunden sein. Auf der anderen Seite haben „leichtere“ Speisen wie z.B. viele Obstsorten nur einen kurzen Verbleib im Magen. Das gleiche gilt auch für viele hoch verarbeitete Speisen. Flüssigkeiten (außerhalb der Speisen) werden dagegen sofort durchgewunken, auch um die Magensäure nicht zu stark zu verdünnen, leider eben auch die in vielen Softdrinks stark zugesetzten einfachen Zucker.
Der Magen hat verschiedene Aufgaben. Zunächst einmal tötet er durch die Säure eindringende Bakterien zu großen Teilen ab. Wird er mit diesen nicht fertig, schmeißt er alles wieder raus, und zwar nach oben, wir übergeben uns. Wird er damit fertig, signalisieren die Rezeptoren dem Pylorus: alles ok, kann passieren. Des Weiteren werden die aufgenommenen Proteine (Eiweiße) durch die Säure denaturiert, das bedeutet, ihre biologische Aktivität wird durch Entfalten der Proteinstruktur verändert. Es wird mehr Oberfläche erzeugt, so dass die Proteine bei der weiteren Darmpassage effektiv aufgenommen werden können. Eine besondere Herausforderung für den Magen sind die Fette. Um diese effektiv aufnehmen zu können, muss der Magen sie aus dem Nahrungsbrei herauslösen. Das geschieht durch kräftiges Durchkneten. Die Fette emulgieren zu feinsten Tröpfchen, bis der Pylorus sich entschließt, diese durchzulassen. Kohlenhydrate hingegen werden im Magen nicht weiter verändert, sie werden in der weiteren Darmpassage durch Enzyme zu kurzkettigen Zuckern zerlegt.
Für seine Aufgaben hat der Magen verschiedene Werkzeuge zur Verfügung. Eine kräftige Magenschleimhaut schützt unseren „Sack“ von innen vor der selbst produzierten Säure. Verschiedene Rezeptoren regeln die Produktion der Säure. Kräftige Muskeln umgeben den Magen, um die Säure mit dem Nahrungsbrei gründlich zu verkneten. Ebenfalls sehr kräftige Muskeln am Ein- und Ausgang regeln den Transport. Insbesondere am Ausgang sitzen Kontrollmechanismen, die anhand von Molekülgröße und Grad der Verarbeitung entscheiden, wie es mit der Verdauung weiter geht.
Der Magen ist also ein sehr intelligentes, muskulöses Organ, das komplexe Lebensmittelstrukturen für die weitere Verdauung aufbereitet. Eine Höchstleistung. Aber, anstatt diese beeindruckenden Leistungen zu würdigen und zu fördern, stopfen viele Menschen diesen mit hoch verarbeiteten Produkten der Lebensmittelindustrie voll. Mit Broten und Brötchen, die zwar dem Magen signalisieren: hier kommt etwas Komplexes, in Wirklichkeit aber aus staubfein gemahlenen Auszugsmehlen bestehen. Weich gekochten Konserven, Fruchtjoghurtzubereitungen, die so weit von natürlichem Obst entfernt sind wie ein Lebensmitteldiscounter von einem guten Wochenmarkt. Und was passiert mit Muskeln die nicht gefordert werden? Sie degenerieren. Irgendwann kann die hochschießende Säure auch nicht mehr im Magen gehalten werden, der obere Schließmuskel dichtet nicht mehr richtig ab und Säure strömt in die Speiseröhre.
Dann machen wir es dem Magen unnötig schwer Fette für die weitere Verdauung aufzubereiten, indem wir durch industrielle Emulgatoren und Stabilisatoren bereitete fettreiche Zubereitungen auf unsere Nahrung streichen (z.B. bei industriellen Majonnaisezubereitungen, Margarinen, usw.). Völlegefühl, Magendrücken sind oft die Folge.
Der Magen hat sein eigenes Programm, er ist „Vernünftigen“ Argumenten unseres rationellen Verstandes gegenüber Taub. Er reagiert ehr auf Röstgeschmack, Salz, Zucker, Farbstoffe und weitere Aromaten, die über Augen, Nase und Mundhöhle den Kontrollmechanismen des Magens Impulse geben. Das macht ja auch Sinn, in Zeiten als der Mensch seinem Essen noch hinterher jagte und oft Dinge aß, die durchaus kompliziert für den Menschlichen Organismus waren.
Das Konzept „Magen“ hat sich in Jahrmillionen entwickelt. Es hat sich wunderbar der Lebensweise der Menschen und den jeweiligen Orten, wo sie ihre Nahrung gefunden haben über viele Generationen angepasst. Allerdings seit wir in den letzten 150 Jahren der Lebensmittelindustrie die Zubereitung unserer Lebensmittel überlassen haben, kommt der Magen der Menschen in den meisten Industrienationen aus dem Tritt. Auch auf soetwas manipulatives wie Lebensmittelmarketing ist der Magen nicht vorbereitet. Das wird wohl noch etliche Generationen dauern, bis die Mägen der Welt mit den „modernen“ Ernährungsweisen klar kommen.
Auch die Folgen für den weiteren Verdauungsapparat sind teilweise verheerend, weil wir es dem Magen nicht ermöglichen, seine Arbeit ordentlich zu verrichten. Wir übertölpen ihn regelrecht. Die Augen sehen ein Brot, also eine normalerweise sehr ballaststoffreiche Getreidezubereitung, der Magen bekommt die Meldung: Säure! Da kommt was Komplexes. Und was kommt? Ein Brot aus Auszugsmehlen, die schon nach einer halben Stunde im Magen durch sind – und die viele Säure bleibt, weil sie eigentlich nicht gebraucht wurde. Das können Sie auf ganz viele Lebensmittel anwenden. Nehmen Sie ein paar Möhren, es muss viel gekaut werden, Faserstoffe müssen gründlich für die Verdauung vorbereitet werden und was machen wir (nicht alle, aber viele)? Schälen sie großzügig, kochen sie in viel Wasser zu Tode. Die Folgen sind all die Zivilisationskrankheiten, denen wir seit Jahrzehnten versuchen erfolglos Herr zu werden.
Dabei ist doch der Magen Ihr Freund! Er beschützt Sie, sorgt dafür, dass Ihr Körper mit gut vorbereiteten Nährstoffen versorgt wird. Und er fühlt mit Ihnen! Hier schließt sich der Kreis zu meiner Einführung, wenn Ihnen etwas auf den Magen schlägt. Bevor Sie also das nächste Mal in ein Billigbrötchen - womöglich mit einer Margarine beschmiert und mit Reformkäse belegt - beißen wollen, fragen Sie sich doch einmal: Soll ich meinem Freund das wirklich antun?
In diesem Sinne einen guten Appetit
Ihr
Andreas Sommers